ESG MOBILITY
Mobilität gestalten –
Transfer-Potenziale von Aerospace
und Automotive nutzen!
Jörg Ohlsen, Geschäftsführer, ESG MOBILITY
Auf den ersten Blick scheint die moderne Luftfahrzeugbranche wenig mit dem Automotive-Sektor gemein zu haben. Betrachtet man Kennzahlen wie Dauer von Entwicklungszyklen, Mitarbeiterzahl, Umsatz oder Preis pro (Luft-)Fahrzeug, erkennt man zum Teil enorme Unterschiede. Dennoch stehen bei beiden Branchen hochkomplexe Technologien und immer stärker vernetzte (eingebettete) Systeme im Mittelpunkt. Und gleichzeitig weist der Trend in Richtung einer immer tiefgreifenderen Verzahnung beider Welten auf dem Weg in die Mobilität der Zukunft – einer Mobilität in allen Dimensionen.
Grundsätzliche Synergie- und Transferpotenziale
Mobilität muss immer stärker ganzheitlich gedacht werden, um den Herausforderungen der zunehmend vernetzten und globalisierten Welt gerecht werden zu können. Daher gilt es, die möglichen Synergie- und Transferpotenziale des Luftfahrt- und des Automobilbereichs zu identifizieren und gezielt für die Mobilität zu nutzen.
In beiden Anwendungsfällen geht es um Transportmittel mit teilweise hochkomplexen Funktionalitäten. Die Funktionen werden auf der Basis von Elektronik und Software als eingebettete Systeme realisiert und müssen vielfach kritischen Realzeit-Anforderungen genügen. Die Einbindung in eine komplexe Verkehrssteuerung ist ebenfalls vergleichbar. Aus der Engineering-Sicht weisen zugleich auch die Domänenstrukturen aus Karosserie und Cockpit, Antrieb und Plattform-Kontrolle große Ähnlichkeiten auf.
Zweifellos sind die konkreten funktionalen Anforderungen, und damit auch die gefundenen Lösungen, in den meisten Fällen grundverschieden. Es gibt aber eine große Schnittmenge, insbesondere bei den Prozessen und bei der Übertragbarkeit von grundlegenden Ansätzen und Lösungen im Bereich der Technologien.
Der gemeinsame Nenner liegt also zuallererst im Bereich der Vorgehensweisen bei der Lösungsfindung, mit anderen Worten, im Engineering. Beispiele hierfür: Bei der „funktionalen Sicherheit“ geht es im Kern um die Frage der Vorgehensweise, wie aus gegebenen Anforderungen ein funktionssicheres Produkt entsteht. Im Wesentlichen ist dieser Prozess unabhängig von der Domäne. Ähnlich beim Anforderungsmanagement, auch hier kann man das gleiche Standard-Tool nutzen. Sogar bezüglich des eher technischen Aspekts „Systemarchitektur“ sind die prinzipiellen Lösungsansätze übertragbar.
Prozesse übertragen, aber richtig
Einer „einfachen“ Übertragbarkeit stehen einige grundsätzliche Unterschiede zwischen Aerospace und Automotive entgegen, wie Entwicklungszeit, Innovationsgeschwindigkeit, Stückzahlen oder Kosten und Nutzungsdauer des Produktes. Dennoch gilt: Die Prozessschritte in der Elektronik- und Softwareentwicklung sind in beiden Industrien vergleichbar. Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten lassen sich also durchaus erfolgversprechende Ansatzpunkte für die Automobilindustrie finden.
Die steigende Bedeutung von Software im Fahrzeug ruft nach einem gleichermaßen effizienten und robusten Softwareentwicklungsprozess. Immer mehr Funktionen müssen in immer kürzeren Zeitspannen von immer mehr Mitspielern unter Beachtung von zunehmend unübersichtlicheren Randbedingungen umgesetzt werden.
Die daraus erwachsende enorme Prozess- und Methodenkomplexität kann nur dann beherrscht werden, wenn die Entwicklungsschritte im Netzwerk von Fahrzeugher-
stellern, Zulieferern und Dienstleistern nahtlos ineinandergreifen und die Aufgabenteilung klar definiert und allen Beteiligten transparent ist. Eine wichtige Maßnahme in dieser Richtung ist die Standardisierung von Schnittstellen.
In der Luftfahrtindustrie hat man schon länger die großen Vorteile der Standardisierung von nicht-differenzierenden technischen Lösungen erkannt und handelt danach: In den letzten Jahren ist die Digitalisierung des Autos durch den extensiven Einsatz von Elektronik und Software mit hoher Innovationsgeschwindigkeit vorangetrieben worden, so dass mittlerweile die Systemkomplexität eines Premium-Automobils mit allen Varianten die eines modernen Verkehrsflugzeugs übersteigt – zumindest gilt dies, wenn man das schiere Gesamtaufkommen an Software und Daten zugrunde legt. Standardisierung, so wie es die Luftfahrtindustrie vormacht, ist also eine Möglichkeit, einen Teil der Komplexität aus dem Entwicklungsprozess herauszunehmen: Ein Modell für die Automobilindustrie!
Bildquelle: iStock-847168036
Immer mehr Funktionen müssen in immer kürzeren Zeitspannen von immer mehr Mitspielern unter Beachtung von zunehmend unübersichtlicheren
Randbedingungen umgesetzt werden.
Technologietransfer – Erfahrungen bieten Mehrwert
Wir haben gesehen, die technologischen Grundlagen sind vergleichbar (Prozessoren, Programmiersprachen, Sensoren, Aktuatoren etc.). Aber: Der 1-zu-1-Transfer von Technologien ist nicht realistisch und kann keinen durchgreifenden Erfolg bringen. Sinnvoll ist hingegen der „Transfer von Erfahrungen“ bei der Lösung von Problemen, beispielsweise in den Bereichen der System- und Unterstützungsfunktionen (Betriebsfunktionen wie Steuerung, Kontrolle und Gewährleistung des Systembetriebs oder Administratorfunktionen wie die Unterstützung von Entwicklungs-, Produktions- und Serviceprozessen).
Ähnliches gilt für die Grundfunktionen auf der Anwendungsebene, wie Sensor- und Datenfusion, Systemzustandserfassung, Umfeld-Erkennung, zentrale Systemkoordination sowie Manöverunterstützung und -durchführung.
Top-Down-Architekturentwicklung – ein ganzheitliches Systemverständnis ist nötig
Ein einschneidender technologischer Paradigmenwechsel – weg vom klassischen Maschinenbau, hin zu Elektronik, eingebetteten Systemen und IT – liegt mehr oder weniger hinter uns. Jedoch erfordern die Elektrifizierung des Antriebs, der noch weiter rasant wachsende Einsatz von Software und die Fülle der unterschiedlichen neuen und stark vernetzten Assistenzsysteme, zum Teil bereits mit Elementen von künstlicher Intelligenz versehen, sowie die Verwischung der Systemgrenzen durch Cyber-Physical Systems neue, zukunftssichere Lösungen.
Ein ganzheitliches Systemverständnis im Entwicklungsprozess ist hierfür gleichermaßen Voraussetzung und Kennzeichen.
Der in der Luftfahrtindustrie etablierte hochentwickelte Top-Down-Architekturentwicklungsprozess ist in dieser Hinsicht beispielgebend. Die bestimmenden Elemente dieses Prozesses sind Standardisierung, Vereinheitlichung der Schnittstellen und Abstraktion von technologischen Detaillösungen. Zentraler Aspekt: Safety und Security können nur auf Seiten der Architektur wirklich sinnvoll „hergestellt“ werden. Dasselbe gilt für die Systemverifikation, sie profitiert ebenfalls von einem stringenten Architekturansatz.
Auf der Subsystem- und Komponentenebene ist das nur sehr unvollkommen möglich und erzeugt dennoch einen immens hohen Aufwand. Sicherheit ist unteilbar und muss deswegen als Ganzes von der Architektur her „entworfen“ werden. Die Luftfahrtindustrie mit ihrer aus Erfahrung gewachsenen Hinwendung auf hochverlässliche Systeme und sichere Funktionen kann hier als Beispiel dienen.
Freilich ist dieser Anspruch mit teils großen Anstrengungen verbunden – der Gegenwert ist jedoch greifbar: technologisch, funktional, prozessual und, so unsere Überzeugung, auch monetär!