Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich

»bleau«

Moritz und Philipp Hans

Ich reibe die Fingerspitzen aneinander. Mein ganzer Körper ist hochkonzentriert und angespannt. Fast würde ich sagen, ich bin auf Überlebensmodus, denn ich befinde mich heute extrem weit außerhalb meiner Komfortzone … in einem der größten Waldgebiete Westeuropas. In bequemer Kleidung, viel Natur um mich herum und meine beiden gutgelaunten Guides, die »berühmten« Hans Brüder.
Es fühlt sich an wie bei »Herr der Ringe«. Wir stehen in einem riesigen Wald, es ist feucht und kühl, aber auch angenehm ruhig. Ich kämpfe noch mit der Verstörtheit des Stadtmenschen, der abseits von Video-Calls mit Kletterschuhen statt Maßschuh und Crashpad statt iPad den Tag verbringen soll.

Aber ich lasse mich darauf ein. In der Vorbereitung dachte ich, es würde sicher entspannter als mein Abenteuer mit Hans Kammerlander auf den Drei Zinnen vor einigen Jahren sein. Ich bin noch nicht sicher.

Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich

Ankunft in Mittelerde
Die Anfahrt in den Dolomiten war aufwendig, lang, eine würdevolle Annäherung an das Erhabene. Hier sind wir von Paris aus eine Autobahn entlanggefahren, unspektakulär. Dann führte eine kleinere Straße in den Wald. Flach, unscheinbar.

Doch plötzlich steht man im Elfenwald und taucht ein in jahrtausendealte Natur. Die riesigen Sandsteinfelsen, geformt von Millionen von Jahren, lassen das Gefühl von Demut aufkommen. So war es in den Dolomiten auch, doch der Zugang ist hier unmittelbar.

Genau das, so bestätigt mein Begleiter Philipp Hans, macht den Bouldersport so attraktiv. Keine lange Anfahrt, kein Anseilen, man kann es oft in der nächsten Umgebung machen. Ich nicke … wie war das, kein Anseilen?

Besser als Berg: Boulder
Meine Mission heute: Bouldern. Ich als Babyboomer möchte mit der Trendsportart Bouldern anfangen? Sie mögen den Kopf schütteln, doch es ist leicht erklärt. Natürlich kennen wir inzwischen alle die gestählten Körper der Hans Brüder, die sich durch die Parcours von Ninja Warrior kämpften und siegreich waren. Das ist die eine Seite. Und nun ja, ganz unsportlich bin ich ja auch nicht, wie ich mit Kammerlander auf den Drei Zinnen bewiesen habe oder letztes Jahr beim Kite Surfen mit Porsche-Athlet Liam Whaley.

Doch mich interessiert viel mehr die andere Seite: Denn Bouldern ist auch: den Fels lesen, Taktik und Strategie. Das lerne ich schnell von den Hans Brüdern: »Wir sind ja eigentlich schon immer zusammen klettern gegangen und haben auch gemeinsam das Bouldern für uns entdeckt. Das Interessante ist ja, auch wenn der Boulder nicht besonders hoch ist, muss man doch erst eine Strategie entwickeln. Und das geht am besten gemeinsam, wenn jeder seine Ideen und Erfahrungen einbringt. Also Teamwork«, so Moritz Hans.

Es ist wohl doch kein Zufall, dass der Vater des Boulderns John Gill, um 1950, Kalifornier, auch Mathematik-Professor war. Dieses Detail hatte sich mir bei der Vorbereitung eingeprägt.

Doch hier bist du frei, ohne Sicherung, ganz auf dich und dein Können gestellt. Und die Strategie und das Lesen sind der halbe bis ganze Erfolg.
Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich
Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich

Fontainebleau
Wenn ich etwas Neues probiere, dann natürlich nicht in einer stickigen Halle im Schwäbischen mit Kindergeburtstagsparty rundrum, sondern an der Wiege des Bouldersports – und einem der schwersten Gebiete.

Wir sind 50 Kilometer entfernt von Paris in Fontainebleau. In diesem riesigen Waldgebiet wurden durch urzeitliche Erd- und Meeresbewegungen Mengen von Sandsteinen aus der Erdkruste emporgeschwemmt. Seit 1330 hat man sich gerne an diesen Ressourcen bedient, Paris hat von hier Millionen von Pflastersteinen liefern lassen, doch wurde diese Nutzung aus Naturschutzgründen Anfang des 19. Jahrhunderts verboten.

Um 1880 haben Alpinisten der Region hier an den riesenhaften Felsen für ihre Touren geübt und so kam der Klettersport in (relativ) niedriger Höhe hier in Mode. Inzwischen geht eine besondere Faszination von diesem Gebiet aus, das unter Sportlern nur Bleau genannt wird.

Ich stehe also auf historischem Boden. Und zwar in Kletterschuhen, in denen man sich fast barfuß vorkommt, kein geerdetes Gefühl wie in Rahmengenähten. Doch es bleibt keine Zeit für Unsicherheit, es geht los, also volle Konzentration.

Meine Trainer for the day haben mir einen Einstiegsboulder ausgesucht, das Crashpad, also die Matte fürs Runterfallen, liegt bereit. (Das gehört übrigens zur normalen Boulder-Ausrüstung, nicht nur für Anfänger wie mich.) Es geht los, aber – ich sagte es schon – mit dem Lesen des Steins.

Wie ich schon in meinen Jugendjahren beim Aushilfsjob in den Räumlichkeiten eines Herrenausstatters erkennen konnte, liegt mir die Kunst, Menschen zu lesen. Ich kann gut einschätzen, was Menschen sein möchten und was sie tatsächlich sind. Und ich habe sogar einen Beruf daraus gemacht. Heute lerne ich, wie ähnlich diese Kunst zum Bouldern ist. Und was es mit dem Weg und dem Ziel auf sich hat. Nun geht es darum, den besten bzw. auch vielleicht einzigen Weg über den Fels zu finden. Im Team.

Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich

Die Hans Brüder
In Stuttgart-Möhringen ist bei den Hans Brüdern das Klettern Familiensache. Der Vater hat die Buben mitgenommen und sie waren fasziniert. Schnell wurde das Talent der beiden klar, sie kletterten sich in die Jugendkader von Baden-Württemberg und weiter hoch hinaus. Philipp ist Deutscher Vizemeister Junioren Klettern 2011 und Baden-Württembergischer Bouldermeister 2014. Er mag es extrem und hat eine Erstbesteigung und Expedition in Grönland erfolgreich im Team gemeistert. Mehrere herbe Rückschläge der Expedition »Coast-to-Coast« wurden im Team verarbeitet und gemeinsam neue Lösungen gefunden.

»Zuerst sind wir 1.000 Kilometer durchs Eis gewandert und konnten dann den Berg nicht besteigen, weil der Winter schon zu weit fortgeschritten war. Was für eine schlimme Enttäuschung! Im nächsten Jahr waren wir am Berg, die Wand schroff vor uns und mein Partner und ich kamen beim Vorklettern in einen Steinhagel. Zum Glück ist nichts passiert, doch wir mussten überlegen, abzubrechen oder eine neue Route zu finden. Und wir haben eine andere Route gewählt und kamen auf den Gipfel. Als Erste! Das war eine einmalige Erfahrung, die mir jeden Tag etwas gibt.«

Für Bruder Moritz sind Extrem-Touren wie diese nichts, doch er ist ebenso erfolgreich: Junioren Vizeweltmeister im Olympic Combined 2015 und Deutscher Vizemeister im Klettern 2014.

Seit der ersten Staffel Ninja Warrior sind sie Teil dieser extrem erfolgreichen Show. Dafür eignen sich die Fähigkeiten von Klettern und Bouldern perfekt, denn hier braucht man neben wahnsinnig viel Kraft, Disziplin und Ausdauer auch Taktik und eine Strategie. Diese ging auf bei Moritz als Ninja Warrior »Last Man Standing« 2017.

Und, wie mich heute etwas überrascht in Jacke, Mütze und Turnschuhen, hat er bei der Tanz-Show Let’s Dance in 2022 den zweiten Platz errungen. Ebenfalls mit viel Ausdauer, Disziplin und Willenskraft. »Das war wirklich eine harte Zeit, gerade die Vorbereitung aufs Finale hat mir nochmal alles abverlangt, so viel Training und Choreographie einprägen über diesen Zeitraum, das war für mich komplett etwas anderes.«

Für mein anderes Leben nehme ich mit: Bouldern ist eine Management-Erfahrung. Das Ziel steht im Mittelpunkt, aber genauso wichtig ist der Weg dorthin. Jede Stimme im Team zählt gleich und nur, wenn alle ihre Ideen einbringen und die beste gewählt wird, kommt man zum Erfolg.

Lift off
Es geht los. Wir lesen den Boulder und die beiden Männer erklären mir, worum es geht. Dann die ersten Versuche. Wie bitte soll man sich denn da festhalten? Das sind ja nur minimale Felsvorsprünge, eher kleine Wölbungen, die die beiden Brüder für mich zum Abstützen vorgesehen haben.

Aber ich wäre ja nicht hier, wenn ich nicht auch eine große Portion Ehrgeiz mit im Gepäck hätte. Also beiße ich mich durch. Die Finger schmerzen, mit den Kletterschuhen hat man doch überraschend guten Halt hier und da, langsam und überlegt komme ich gut ans Ziel, ohne das Crashpad zu nutzen. Und siehe da, das Gefühl oben auf dem Boulder fühlt sich frei, ungebunden und ziemlich großartig an.

Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich
Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich
Bleau - Wolfgang K. Eckelt mit Moritz und Philipp Hans beim Bouldern in Fontainebleau, Frankreich
Vielleicht sogar besser als auf den Drei Zinnen. Ja, klar, die Höhe des Bergmassivs hatte natürlich eine besondere Dramatik. Doch hier bist du frei, ohne Sicherung, ganz auf dich und dein Können gestellt. Und die Strategie und das Lesen sind der halbe bis ganze Erfolg.

Apropos: Ich habe auch gelesen, Bouldern trainiert den Umgang mit dem Scheitern. Das werde ich heute noch feststellen, doch trotz allem verschiebt sich von Boulder zu Boulder die mentale Grenze wieder um ein Stückchen in die richtige Richtung. Wie sagt Philipp: »Um als Mensch zu wachsen, muss man seine Komfortzone verlassen.« Genau das habe ich heute getan und es war grandios.

Für mein anderes Leben nehme ich mit: Bouldern ist eine Management-Erfahrung. Das Ziel steht im Mittelpunkt, aber genauso wichtig ist der Weg dorthin. Jede Stimme im Team zählt gleich und nur, wenn alle ihre Ideen einbringen und die beste gewählt wird, kommt man zum Erfolg.

Kandidaten lesen | Dr. Wolfgang Eckelt